In Jesus leben, in Jesus sterben
Die Kantate
Die Kantate „In Jesus leben, in Jesus sterben“ ist eine Kantate über die biblische Figur Judas. Jesus wurde von seinem Jünger Judas verraten und aus dieser Tat folgte für Jesus ein Todesurteil. Aber warum hat Judas Jesus verraten? Warum überhaupt verraten andere Menschen ihre besten Freunde und hintergehen vertraute Menschen? Wie können wir uns gegenseitig solche Taten verzeihen?
Die Figur des Judas ist eine höchst interessante Figur in der Passionsgeschichte. Bei Matthäus erhängt sich Judas nach dem Verrat als reuiger Sünder. Durch die Darstellungen Judas‘ der einzelnen Evangelien wurde er seit vielen Jahrhunderten zu einer Figur, die unter anderem zur Beflügelung des Antijudaismus benutzt wurde. In den letzten Jahren wird in Theologie, Literatur und Kunst, Judas mit immer mehr Wohlwollen wahrgenommen und diskutiert. Judas verrät Jesus, bekommt sogar eine Belohnung und bereut es anschließend doch. Seine Reue geht so weit, dass er sich umbringen wird, nachdem er sieht, dass Jesus zum Tode verurteilt wird. Auf ihm lastet eine Schuld, die so groß ist, dass er keinen anderen Ausweg sehen kann. Trotzdem ist Judas ein mutiger Mensch. Bevor er sich erhängt, geht er in den Tempel zurück und will seinen besten Freund zurückkaufen. Aber das gewährt man nicht. So ist Judas in seinem eigenen Schicksal gefangen. Judas stirbt, bestraft sich selbst, und Jesus stirbt für die Vergebung der Sünden. Somit hat Jesus Judas vergeben, weil er den Plan Gottes beendet. Judas ist auf grauenvolle Weise an einem wirklich perfiden Plan beteiligt, von dem er weiß, dass er ihn beenden muss. Warum also wird Judas so bloßgestellt? Warum spricht man über ihn immer wieder das Urteil des Verräters? Hat er sich nicht selbst genug bestraft? Ist Gott nicht der letzte Richter für ihn? In gemäßigt modernem Stil vertonte Helene Streck 2020 den Selbstmord Judas‘ und gibt ihm einen Platz im gottesdienstlichen Geschehen.
Besetzung:
Tenor (in der Rolle des Judas)
Sopran (in der Rolle der Erzählerin)
Violine I
Violine II
Violoncello
Orgel
Eröffnet wird die Kantate mit einem Trauergesang. Beide Violinen vereinen sich zu einem aus der Quinte beginnenden, schmerzvollen, bedrückenden Kontrapunkt, der anschließend von der Orgel übernommen und in einem engen kontrapunktischen Satz weitergeführt wird, bis beide Geigen wieder übernehmen und langsam zum Einsatz des Cellos überleiten. Das Cello fungiert hier als Hauptstimme, die beiden Geigen begleiten es nur. Gleich zu Beginn wird deutlich, wie klagend das Cello seine Linie vollführt. Immer wieder beginnen die Phrasen in der mittleren Lage und drängen nach unten in die Tiefe. Höhepunkt im Trauergesang ist der tiefste Ton, der auf einem Cello spielbar ist, über dem die beiden Geigen sehr unharmonisch weiter kontrapunktieren. Immer wieder erklingt das Thema des Trauergesangs, bis dieser langsam und unerbittlich klagend endet.
Es schließt sich ein Rezitativ (Text des Matthäusevangeliums) an, in welchem beschrieben wird, wie Jesus verhaftet wird und Judas, nachdem er vom Todesurteil über Jesus hört, die 30 Silberlinge in den Tempel zurückbringt und Jesus zurückhaben will. Am Ende des Rezitativs, in dem Judas auch in Ich-Form auftritt, erklingt wieder das Thema des Trauergesangs. An dieser Stelle wird das erste Mal deutlich, dass es das Motiv ist, das für Judas entwickelt wurde und welches immer wieder auftritt.
Dem Rezitativ folgt eine Arie, in der beide Geigen als Einheit auftreten. Hier sind Cello, Tenor und Orgel als Solisten besetzt, die in Triobesetzung spielen. Die Orgel tritt besonders durch einen langen Ton im 4‘-Fuß Register hervor, der in elegische Melodiefetzen übergeht, die aus dem Thema des Cellos weiterentwickelt werden. Als Gegensatz, gleich dem inneren Konflikt des Judas, drängen hier die Motive aus den tiefen in die hohen Lagen. Die Geigen übernehmen hier einen undurchdringbaren Part: Sie wechseln zwischen zwei gleichbleibenden Tönen suchend und irrend hin und her.
„Erst Frieden in uns und dann in der Welt. Ich dachte das anders, gab alles für Geld.“
(Textzitat Nr. 3, Arie; Text: Ulrike Streck-Plath)
Den Höhepunkt in diesem Teil des Werks nehmen Orgel und Tenor ein, die ein Duett musizieren, während die Streicher hauptsächlich lange Töne in hohen Lagen halten. Die Arie endet mit einem Akkord, der sich nicht auflöst, sondern leise im Raum stehen bleibt, bis das nächste Rezitativ anschließt.
Dieses Rezitativ schließt textlich direkt an das 1. Rezitativ an. In diesem Textabschnitt wird davon erzählt, dass Judas Jesus nicht zurückbekommen wird und das Geld aus lauter Trauer und Wut in den Tempel wirft und fortgeht. Darauf folgt eine weitere Arie, die sehr schnell und damit auch sehr kurz ist. Das Motiv für diese Arie ist eine aufsteigende Quinte, die mit dem Wort „Hinaus“ komponiert ist. Die Streicher treten nun als Trio auf, stark und brutal hämmernd, in elendigen Höhen spielend begleiten sie den Tenor, der wahnsinnig geworden, schwere Melodiepassagen singt. Die Harmonik dieser Arie ist scharf, aber mit Grund, und bringt schweren Schmerz, sogar Folter zum Ausdruck, bekommt man doch das Gefühl, die Geigen peitschen den SÄnger aus. Zum Ende der Arie treten wieder Themen des Trauergesangs auf. Mit einer scharfen Reibung einer kleinen Sekunde zwischen Tenor und Streichern endet die Aria. Man merkt nun deutlich, in welche Richtung sich die Dramatik wenden wird.
Die letzten beiden Stücke der Kantate sind ein Choral und ein fünftaktiges Rezitativ.
„Ich will dir folgen, wohin du gehst. An alle Orte, wohin’s dich zieht.“
(Textauszug Nr. 6, Choral; Text: Helene M. L. Streck)
Der Choral ist ein Lied, das ich selbst geschrieben habe. Es trägt denselben Titel wie eben diese Kantate. Es spielen und singen in diesem Stück der Kantate nur das Cello und der Tenor. Mit einer langen, schrittweise hinkenden Einleitung aus Doppelgriffen und Tripelgriffen im Cello wird der Choral eröffnet. Nachdem sich das Cello aus der musikalischen Emotionalität zurückzieht, setzt der Tenor ein, leise begleitet vom Cello, dessen Part sich nicht ändert. Nachdem der Tenor geendet hat, spielt das Cello ein kurzes Nachspiel im pizzicato, das sich immer mehr zu Einstimmigen Pizzicati abbaut, bevor der letzte Ton mit Fermate im Kirchenraum verhallt.
Die Worte des letzten Stück, eines Rezitativs, lauten: „Und er ging fort und erhängt sich selbst.“ Auf dem letzten Ton des Soprans, der das Rezitativ singt, erklingt ein letzter Akkord in den Streichern, der mit sehr sehr leise (ppp) bezeichnet ist und mit einem decrescendo ein zweites Mal gespielt wird. Als letztes ist in der Partitur eine zehn sekundenlange Stille als letztes musikalisches Mittel notiert.